Die Gegenwart des göttlichen Geistes
Von Dr. Donata Dörfel aus den Paulus Blättern Juni 2017, Seite 11
Zehn Tage nach dem Fest der Himmelfahrt Christi feiert die Kirche Pfingsten (aus dem Griechischen: „fünfzig“). Es ist der fünfzigste Tag nach der Auferstehung Jesu am Ostermorgen.
Die alten, aus dem Rhythmus des bäuerlichen Jahres stammenden Feste bekommen in der christlichen Tradition eine neue Bedeutung. In der hebräischen Tradition werden nach dem Passahfest, das Jesus als „letztes Abendmahl“ mit seinen Jüngern auch feierte, die Tage gezählt.
Das rasche Wachsen und Aufblühen in der Natur ließ schon im Alten Orient in diesen sieben Wochen eine erste Ernte des Jahres heranwachsen. Auch bei uns entfaltet sich aus dürren Winterästen im Frühling eine Fülle von Blättern und Blüten und im Frühsommer sind bereits die leckersten Beeren reif. In diesen Wochen sieht man jeden Tag den Fortschritt. Fünfzig Tage nach dem Passah wird in der hebräischen Tradition das Erntefest „Schawuoth“ („Wochenfest“) gefeiert.
Die ersten christlichen Gemeinden waren in der hebräischen Tradition beheimatet, fanden aber neue Begründungen für die alten Festzeiten. Für sie stand alles in Verbindung mit Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Er steht für uns im Mittelpunkt des Glaubens. Christus ist der Grund des Vertrauens auf Gottes Leben schaffende Liebe und Kraft.
Erinnern und ermutigen
Als Auferstandener – so erzählt es das Neue Testament – erscheint er seinen Freunden und Freundinnen immer wieder in unterschiedlichen Momenten, erinnert sie an alles, was sie miteinander und mit Gott verbindet und ermutigt sie für ihren eigenen Weg in der Welt. Er hat die Bosheit der Menschen am eigenen Leibe erfahren, den Tod erlitten und überwunden, hat um Vergebung gebeten für seine Peiniger. Auch als Auferstandener trägt er die Wundmale an seinem Leibe, aber er ermutigt, über die alten Wunden hinauszuwachsen, das Leben anzunehmen und zu gestalten, ihn selber in der Begegnung mit Menschen neu zu entdecken, alles miteinander zu teilen und allen Zugang zu ermöglichen zu seiner Botschaft. Jesus hatte schon zu Lebzeiten angekündigt, dass er nach seinem Abschied von der Erde eine neue Verbindung zwischen den Menschen und Gott stiften werde: Sein Geist der Liebe und Vergebung soll alle erfüllen, die sich für ihn öffnen. Deshalb geht es bei Pfingsten für uns nicht um ein allgemeines „Erntefest“, sondern darum, die Beziehung zu Christus in einer neuen Weise zu entdecken.
Seelisch und körperlich
Eine Ikone aus der maronitischen Kirche in Syrien verbildlicht diese Botschaft von „Pfingsten“, so wie sie im Neuen Testament in der Apostelgeschichte Kapitel 2, als eine dramatische Szene voller Sturm, Feuer und einem Wunder des Verstehens beschrieben ist. Im Zentrum steht Maria, die Mutter Jesu, umgeben von zwölf stehenden Jüngern und drei knienden Jüngerinnen. Sie alle haben die Hände zum Gebet erhoben und ihre Köpfe sind von goldenem Glanz umgeben. Allein Maria weist mit der rechten Hand zum Himmel, mit der linken zur Erde: Was hier geschieht hat himmlischen Ursprung und eine unmittelbare irdische, seelisch und körperlich zu erfahrende Wirkung.
Über ihnen schwebt eine Taube, wie im Sturzflug auf sie gerichtet. Sie löst sich am oberen Bildrand aus einem tiefblauen Bereich, soll Gottes Heiligen Geist darstellen und ist von einer roten Aura umgeben, aus der sich Flammen nach unten senken. Auf dem Kopf jeder Gestalt lodert ein Bündel Flammen. Außerdem wird die Verbindung zwischen dem oberen, um die Geist-Taube konzentrierten feuerroten Bereich und den vielen Menschen durch einzelne, gebogene Strahlen dargestellt. Was auf den ersten Blick wie ein Kuppeldach anmuten kann, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein Bild für die Verbindung zwischen Gottes Leben schaffendem Geist und der Person jedes Menschen. In der Apostelgeschichte heißt es, dass die Jünger in ihnen fremden Sprachen zu sprechen begannen und alle zum Fest in Jerusalem versammelten Menschen die Botschaft von Jesus und seiner verwandelnden Kraft erfuhren. Bis heute ist sie wirksam, mitten in Verfolgung, in Gefängnissen, unter Folter und Verhören. Ein Leben trotz der gravierenden Traumata soll möglich werden.
Wie kostbar ist das christliche Zeugnis der maronitischen Kirche heute in der politischen Zerrissenheit und militärischen Unsicherheit des Nahen Ostens. Feiern wir mit Christen aus Syrien und aller Welt in diesen Wochen die Gegenwart des göttlichen Geistes, der uns Herzen und Sinnen für einander öffnet und Verstehen möglich macht